Regentexte

Durch den Monsun

Still liegt er da. Nicht ein Hauch von Wind streift durch die Bäume oder über die Wasseroberfläche.

Ein freundliches Grau berührt die grünen Ränder der Baumwipfel des Parks. Ein winzig kleines Sommerloch mit leichtem Nieselregen lässt die Natur aufatmen. Glücklich läuft Lilith den Weg hinein und fühlt sich willkommen. Sie könnte ihren Park umarmen. Dies will sie heute auch tun, auf ihre Weise, mit allen Sinnen. Dankbar saugt sie mit den Augen die sanften Farben, das freundliche Licht auf. Die grünen Flächen scheinen sich zu laben an dem angenehmen Feucht, welches die Luft verdichtet und ihre Wangen benetzt. Lilith nimmt eine Gestalt wahr, die auf der Bank unter dem Baum am See mit einem Schirm sitzt und liest. Irgendetwas muss besonders an diesem Ort sein. Immer, wenn sie hier vorbeikommt, sitzt auf dieser Bank jemand. Bei jedem Wetter. Mal ist es jemand mit Zeitung, dann ein andermal mit Schirm, entspannte Körper oder auch gekrümmte Rücken, ihr kurzer Blick Richtung Baum scheint immer eine ganze Geschichte aufzunehmen. Hier wird gesessen, geschaut, entspannt, nachgedacht, geweint.

Ein besonderer Ort, eine freundliche Bank. Sie nimmt sich fest vor, sich auch einmal dort niederzulassen, sollte diese Bank jemals nicht besetzt sein. Sie hofft, dann ein Buch dabei zu haben, um keinesfalls mit dem Handy beschäftigt zu sein. Einmal wird sie sich dem Zauber dieser einen Bank überlassen.

Lilith lächelt bei dem Gedanken – welch schöner Vorsatz. Es ist wundervoll, einen Wunsch offen zu haben, um ihn irgendwann in Erfüllung gehen zu lassen.

Sie geht mit kraftvollen Schritten weiter, jeder Blick von jedem Schritt aus ist ihr nicht neu und dennoch lässt sie sich wieder und wieder überraschen. Vorbei an einem Kiosk mit wilder Dachbegrünung aus Löwenzahn, Wildblumen und allerlei Gräsern fällt ihr Blick auf den See. Ein großer Fisch turnt an der Wasseroberfläche herum, ein weiterer schwimmt zu ihm. Flossen und die sanfte Krümmung der Körper verraten sie. Zwei Entchen, die zielstrebig nach dem Rechten sehen wollen, ziehen eilig weiter. Welch leises Spektakel, beinahe hätte Lilith es verpasst. Ein paar Schritte weiter spiegeln sich die Hänge der gegenüberliegenden Seite in der schwarzen Oberfläche des Sees. Sie überholt ein paar Menschen mit Schirmen, wird von Läufern überholt und genießt die Steigerung der Brücke, die über die Autobahn führt. Lilith schaut in die Gesichter derer, die ihr begegnen. Immer intensiver studiert sie die Menschen und sucht Augenkontakt. In die zweite Parkhälfte abtauchend wird ihr Schritt schneller und länger. Der Film an Feuchtigkeit, der sie umgibt, wird heftiger, Tropfen berühren sie. Es fühlt sich gut an. Sie lächelt glücklich. Regen setzt ein und wird stärker. In einem von Bäumen geschützten Stück lächelt ein Läufer zurück und spricht sie an, wie schön doch ihr Lächeln sei. Die warmen Worte begleiten sie. Wie aus Eimern schüttet es mittlerweile schwer auf sie ein sodass sie unter einer Baumgruppe innehält.

Dicht schmiegt Lilith sich zwischen die Stämme. Nun wird sie nicht mehr strömend nass, es platscht in unregelmäßigen Abständen auf sie herunter. Von einem scheinbar dichtbelaubten Zweig zum anderen wechselnd beginnt sie sich zu fragen, ob es nicht angenehmer ist, komplett durchnässt zu werden als von den durch das Blattwerk gesammlten dicken Tropfen erwischt zu werden. Wie einer willkürliche Berührung ist sie diesen unberechenbaren Attacken ausgesetzt. Entschlossen setzt sie sich in Bewegung um richtig nass zu werden. Sie will es selbst in der Hand haben und entscheiden. Die Haare liegen flach an, alle Nässe von oben läuft über ihre Augen, die sie nun feste zuzwinkert, um durch den schmalen Schlitz einen klaren Blick zu haben. Durch ihr Gehtempo läuft das Wasser seitlich von ihrem Gesicht an den Wangen entlang zum Kinn und in ihren Jackenkragen direkt auf ihre Haut, um sich, angewärmt von ihrem Körper, feucht zu verteilen.

Die Heftigkeit des Schauers hält an, und Lilith bemerkt erstaunliche Eigenarten ihrer Umgebung, die sie so noch nie wahrgenommen hat. So manch Baumzeile erweist sich als schützend, während sicher geglaubte Stellen so durchlässig sind wie ein Sieb. Am Boden sammelt sich das Wasser und beginnt zu fließen. Ihre Wegentscheidungen werden von außerordentlich praktischen Erwägungen geleitet. Sie vermeidet unberechenbare Tiefen, das Eindringen von Wasser in den Schuhen hat etwas Entzauberndes. »Durch den Monsun«, ihr Kopf ist voll mit diesem Lied und verleiht ihr Flügel. Zeit spielt keine Rolle mehr. Doch dann ein letztes Wetterleuchten und der Spuk mit dem starken Regen scheint vorbei.

Die Sonne durchdringt die Wolkendecke nicht, aber die Umgebung wird lichter. Die Farben wirken wie frisch gewaschen. Der Baum am See mit der magischen Bank taucht wieder vor ihr auf. Kein Mensch weit und breit. Ihre Lebensgeister erwachen, Adrenalin jagt durch ihren Körper, ihr Schritt wird eiliger, ihr Blick schaut suchend herum.

Soll sie oder soll sie nicht? Diesen einen Moment zögernd nähert sie sich, um sich dann auf die Bank fallen zu lassen.

Lilith holt tief Luft, der Atem durchströmt ihren Körper und lässt sie ruhig werden.

Der mildgrüne See verwöhnt ihre Augen, in ihren Ohren lässt das Rauschen des Monsuns nach. Ein Konzert von übermütigen Vogelgesängen dringt langsam in ihr Bewusstsein. Die lebendige Schar Zwitschernder sitzt direkt über ihr im dichten Laub des Baumes. Einer eigenen Welt gleich umgibt sie das Blätterwerk, die Farben der Umgebung und die Summe der Töne, umrahmt von Baumketten und den sanften Schwüngen der Hügel. Der See zu ihren Füßen flüstert leise Töne an das Ufer, glitschigen Küssen gleich. Spinnendünne Wasserläufer gleiten auf der lichten Wasseroberfläche dahin, ohne die Spannung zu zerstören. Kleine Wunder.

Andächtig sitzt Lilith da, weich, warm und geborgen. Der Körper spürt das Gitter der Bank, das Wohlfühlen beim Anlehnen und Beine ausstrecken überwiegt. »Sein« ist jetzt alles. Zwischen den Zeiten gleitet Lilith dahin. Eben noch aktiv den Elementen ausgesetzt ruht sie nun. Loslassen. Einfach loslassen. Sie atmet aus.

Ein Spaziergänger geht vorüber und denkt, welch besonderer Platz das sein muss, immer, egal bei welchem Wetter, sitzt dort jemand unter dem Baum am See auf der Bank.

Es wird still, selbst die Vögel halten inne.

Die Zeitungsredaktionen überschlagen sich, die Reaktionen auch. Nachbarn im Haus bei dem Park raunen sich im Fahrstuhl zu: »Hab die Frau aus dem Fünften schon lang nicht mehr gesehen, wisst ihr vielleicht …?«, »Hast du gehört, im Park soll es …«

Es gibt viele Hinweise und Meldungen aus der Bevölkerung auf die Artikel. »Verschwunden im Park«, »Vermisst«, »Lost Places« schreien die Headlines den Vorübergehenden aus den Zeitungskästen am Straßenrand, an den Bushaltestellen und vom Zeitungsständer an den Kiosken entgegen.

Auch der Spaziergänger liest noch durch die Scheiben des Zeitungskastens von diesem weiteren tragischen Fall, der sich wieder ereignet hat. »Verschwunden ist eine junge Frau. Die Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus.« Begierig reißt er eine Zeitung aus dem Kasten. Mit langen Schritten eilt er in den Park zu dem Baum am See, um sich auf seiner Bank niederzulassen. Er atmet tief ein und wieder aus und genießt die Stille, die ihn umgibt. Es ist ein besonderes Fleckchen Erde.

 

Quelle: Pixabay

 

Es gibt sie, diese unverhofften Geschenke, wo man bei einer anderen Bloggerin etwas liest und dann denkt: Aber das ist ja großartig und würde so unglaublich gut passen. Nicht nur für mein Etüdensommerpausenintermezzo drüben, für das Doro diesen zauberhaften Text geschrieben hat, sondern auch für hier, für die Regensucherin, die sie bis dahin noch nicht kannte.

Da Doros Blog nicht auf WordPress läuft, habe ich mit ihr abgesprochen, ihren Text in dieser Form zu teilen. Hier geht es zum Original auf doro-art.com. Herzlichen Dank, liebe Doro, ich freue mich sehr!